Antje Boetius sitzt im Eis vor der Polarstern und untersucht den Wandel im arktischen Ozean

© Alfred-Wegener-Institut / Esther Horvath (CC-BY 4.0)

Pressemitteilung, 29.09.2023, Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung

Forschungsschiff Polarstern kehrt am Wochenende in seinen Heimathafen Bremerhaven zurück

[29. September 2023] Nach erlebnis- und arbeitsreichen Monaten endet am kommenden Wochenende die Arktissaison mit der Polarstern-Expedition namens ArcWatch-1. Das knapp 100-köpfige Team aus Besatzung und Wissenschaft hat Dicke und Eigenschaften des Meereises vermessen, die Strömungen und chemischen Eigenschaften des Ozeans aufgezeichnet und das Leben im und unter dem Eis, im freien Wasser und am Boden der Tiefsee erforscht. Ihre Daten zeigen erhebliche Veränderungen im Vergleich zu vorangegangenen Expeditionen auf. Am 7. September 2023 erreichte die Polarstern den Nordpol, und am 20. September gab es den weltweit ersten Livestream eines ROV-Untereis-Tauchgangs aus der Zentralarktis.

Der Sommer des Jahres 2023 geht ein als der global heißeste Sommer seit Beginn der Wetteraufzeichnungen: die Gletscher schmelzen schneller denn je, riesige Waldbrände in Kanada und Sibirien hinterlassen ihre Spuren, das Meereis schmolz schon im Mai und Juni 2023 schneller als zuvor. Daher erwartete des Expeditionsteam besonders wenig Meereis während der Untersuchungen in der zentralen Arktis. Die ersten Ergebnisse waren überraschend: Das Meereis des zentralen Arktischen Ozeans schmolz im August und September nicht so weit ab wie erwartet, es war auch dicker als in den Jahren zuvor.

„Es fehlten die Schmelztümpel, die Sedimenteinschlüsse, die Presseisrücken, die sonst so charakteristisch für das arktische Meereis im Sommer sind. Das Eis war besonders flach und von unten stark aufgeschmolzen. Ungewöhnlich viel Schnee auf den Schollen hat dafür gesorgt, dass sie von Oberflächenschmelze geschützt waren und es direkt unter dem Eis nur wenig Licht gab“, berichtet AWI-Meereisphysiker Dr. Marcel Nicolaus. Er setzte mit seinem Team an den insgesamt neun Eisstationen einen Unterwasser-Roboter (Remotely Operated Vehicle, ROV) ein. Ein besonderes Highlight der Expedition war die live Übertragung eines solchen Tauchgangs auf dem AWI-Youtube Kanal am 20. September, der erste ROV-Untereis-Tauchgang, der live aus der Zentralarktis ins Internet übertragen und von mehreren hundert Menschen verfolgt wurde.

Der großräumige Einsatz des Messgerätes EM-Bird vom Helikopter der Polarstern sowie von parallelen Flugzeugkampagnen zeigte: Die Dicke des ebenen Meereises betrug auch Anfang September noch 1,2 Meter – mehr als im Sommer der MOSAiC-Expedition im Jahr 2020 oder zum größten Meereisminimum 2012. Dank Telekommunikation über neue Satelliten mit Polarabdeckung konnten die Daten der Expedition direkt in Modelle eingespeist werden. Meereisphysiker Dr. Thomas Krumpen erklärt die beobachtete Anomalie so: „Wo in den letzten Jahrzehnten die Schollen vorwiegend von den sibirischen Schelfen in das Eurasische Becken drifteten, kam das Eis dieses und auch letztes Jahr aus dem kanadischen Becken, ohne Kontakt zum flachen Schelf. Das ist ein ungewöhnlicher Verlauf der Transpolardrift.“ Die Ursache beruht vermutlich auf einem Phänomen von ungewöhnlich stabilen Tiefdruckgebieten, die den Sommer über das Eis auf dem sibirischem Schelf zusammen hielt und verknüpft war mit einer Zufuhr kalter Polarluft.

„Entsprechend haben wir kaum Eisalgen an der Unterseite des Meereises gefunden. Besonders Melosira arctica fehlte, die meterlange Ketten bilden kann und ein wichtiger Nährstofflieferant für das gesamte Ökosystem ist. Das Eis war dieses Jahr wie tot. Wegen der Abdunklung durch Schnee schwammen Algen aus dem Wasser auf und legten sich in einem Film unter das Eis, um noch etwas Licht abzubekommen“, berichtet die Leiterin der Expedition Prof. Dr. Antje Boetius, Direktorin des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Veränderungen entdeckten auch die Ozeanographen in der obersten Meeresschicht, die salziger war als in den Jahren zuvor wegen der fehlenden Eisschmelze sowie geringerer Einträge des sibirischen Schelfwassers.

Der Vergleich mit den früheren Untersuchungsjahren 2012 und 2020 zeigte auch für das im Wasser treibende, planktonische Leben Unterschiede. Im August und September war die Algenblüte längst vorbei, es konnte sich auch keine Algenbiomasse unter dem Eis aufbauen. Stattdessen fanden die Forschenden Schwärme von Tieren wie Pfeilwürmer, Manteltiere, Eisamphipoden, Ruderfußkrebse, Flügelschnecken und Rippenquallen. Das Team um Co-Fahrtleiterin Dr. Christina Bienhold fand die Lebensgemeinschaften in der Tiefsee daher verändert vor: „Es sind dieses Jahr kaum Meereisalgen in die Tiefsee gesunken. Dennoch ist insgesamt die Aktivität der Lebewesen am Boden etwas im Vergleich zum Meereisminimum im Jahr 2012 gestiegen.“ Aufnahmen mit der Tiefseekamera zeigten, dass sich die Zusammensetzung der Gemeinschaft verändert hat. Der einstmals glatte Meeresboden wurde stark besiedelt und durchwühlt von Ringel- und Borstenwürmern, kriechenden Seeanemonen und Seegurken. „Es ist erstaunlich, wie schnell das arktische Leben auf Änderungen in der Meereisbedeckung reagiert,“ sagt Antje Boetius. Das Team konnte Proben aller Größenklassen von Lebewesen der arktischen Tiefsee gewinnen, um ihre Vielfalt und Verteilung sowie auch Veränderungen zu den vergangenen Jahrzehnten zu untersuchen.

Die Forschungen der Expedition ArcWatch-1 schlossen auch Meeresbodenkartierungen von bisher unbekannten Seebergen ein, von denen sich einer als Biodiversitäts-Hotspot entpuppte. Zudem gewannen die Chemiker an Bord große Mengen von Wasser- und Eisproben, um die Veränderung der Kohlenstoffpumpe in die Tiefsee zu erfassen und um nicht-abbaubare chemische Stoffe zu detektieren. Für ein europäisches Projekt bewerten sie die Verteilung von Schadstoffen in der Arktis. Das Polarstern-Team konnte zudem eine Reihe neuer Hightech-Instrumente wie Roboter, autonome Sensor- und Probennahme-Module, sowie hochauflösende Untereiskameras erfolgreich einsetzen. Sie bauten ein großes Netzwerk von Bojen auf und setzten neuartige Verankerungen für ganzjährige Untersuchungen ein. So werden sie weitere Daten über den Wandel des zentralen arktischen Ozeans erhalten, auch nachdem Polarstern nun aus der zentralen Arktis zurückkehrt.

Weitere Einblicke in die Expedition können Interessierte bereits zum Jahreswechsel bekommen: Eine Dokumentation, produziert von UFA Documentary, mit dem Arbeitstitel ARCWATCH – HOFFNUNG IM EIS wird am 29. Dezember um 21.45 Uhr im Ersten ausgestrahlt und in der ARD-Mediathek verfügbar sein. Die kommenden drei Wochen wird die Polarstern für standardmäßige Wartungs- und Reparaturarbeiten in der Bremerhavener Lloyd Werft verbringen, bevor sie Ende Oktober Richtung Antarktis aufbrechen wird.

Diese Pressemitteilung findet ihr beim Alfred-Wegener-Institut Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung.

Der Wandel im arktischen Ozean zeigt sich nicht nur durch veränderte Artgemeinschaften, sondern auch durch die Veränderung der saisonalen Vertikalwanderung von Zooplankton als Folge des zunehmenden Meereisrückgangs.

 

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